Im Zentrum des Forschungsprojekts steht das Lernen anhand von Best-Practice-Beispielen, die das allgemein anerkannte Leitbild der gemischt genutzten Stadt auf Stadtteil-, Quartiers- und Gebäudeebene gemeinwohlorientiert und innovativ umsetzen. Im Sinne der Transformationsforschung werden diese Fallbeispiele als in Politik und Gesellschaft verankerte Experimente verstanden, aus welchen durch den Nachvollzug ihrer Umsetzung Handlungswissen abgeleitet werden kann. Im Zuge dieses Lernprozesses sollen zudem die systemischen Herausforderungen und Chancen der vertikal gemischt genutzten Stadt verdeutlicht werden, die Veränderung bestehender Rahmenbedingungen und Handlungsweisen sowie neue Experimente anregen und zur Schärfung zukünftiger Ziele beitragen.

Die Ziele für die nachhaltige Entwicklung von Quartieren sind vielfach formuliert. Dazu gehört neben der Gemeinwohlorientierung im Baugesetzbuch auch das Leitbild der nachhaltigen, kompakten und nutzungsgemischten Stadt der Leipzig Charta (2007) mit der Novellierung von 2020, die den Fokus verstärkt auf Gemeinwohlorientierung und Teilhabe richtet.

Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) stellte in seinem 2016 veröffentlichten Hauptgutachten „Der Umzug der Menschheit: Die transformative Kraft der Städte“ anstatt eines übergreifenden Leitbildes einen „normativen Kompass“ für städtebauliche Entwicklungen vor, der drei Dimensionen umfasst: (1) Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, (2) Sicherstellung politischer und ökonomischer Teilhabe der Stadtbewohner:innen und (3) Bewahrung der Eigenart jeder Stadt. Für das Forschungsprojekt ist davon insbesondere die Sicherstellung politischer und ökonomischer Teilhabe relevant.

In den zurückliegenden ca. 20 Jahren sind Projekte entstanden, sowohl Gebäude als auch Quartiersentwicklungen, die im Rahmen des Forschungsprojekts als Realexperimente betrachtet werden, da sie die oben genannten Ziele der nutzungsgemischten und gemeinwohlorientierten Stadt umzusetzen suchen. Innerhalb von Wohngebäuden wird bei diesen Projekten mit den unteren Geschossen an der Schnittstelle zwischen Gebäude und Stadt das Ziel verfolgt, auf unterschiedliche Weise einen Beitrag zur vertikalen Mischung und zur politischen, sozialen und ökonomischen Teilhabe zu leisten. Die für die Forschung als Fallstudien identifizierten und untersuchten gebauten Projekte gehen größtenteils auf Initiativen engagierter Akteurinnen und Akteure zurück.

Auf Grundlage einer systematischen Literaturrecherche der im deutschsprachigen Raum zwischen 2000 und 2020 veröffentlichen Fachpresse wurde eine Long-List mit im Rahmen des Forschungsprojekts betrachtenswerten Realexperimenten erstellt. Dafür wurden die Fachzeitschriften Archplus und Bauwelt (beide Deutschland), Archithese und Werk, Bauen + Wohnen (beide Schweiz) sowie das Internetportal Baunetz der Jahrgänge 2003 bis 2020 ausgewertet und die verfügbaren Online-Archive und deren Suchfunktionen für die Stichworte Wohnen, Leben und Arbeiten, Erdgeschoss, Mischnutzung, kompakte Stadt etc. genutzt. Für die als betrachtenswert identifizierten Realexperimente der Long-List wurden Projektsteckbriefe erstellt.


Stadtteil „Semaest“ | Paris | 1990-

Quartier „Västra Hamnen“ | Malmö | 2001

Gebäude „Riffraff“ | Zürich | 2002

Quartier „Sluseholmen“ | Kopenhagen | 2007

Stadtteil „Seestadt Aspern“ | Wien | 2007-2028

Stadtteil „Französisches Viertel“ | Tübingen | 2008

Gebäude „Noordbuurt“ | Amsterdam | 2008

Gebäude „Oderberger Str. 56“ | Berlin | 2010

Gebäude „Big Yard“ | Berlin | 2011

Stadtteil „Nordhavn“ | Kopenhagen | 2013-

Gebäude „Stadtregal“ | Ulm | 2013

Gebäude „Wohnen mit Alles“ | Wien | 2013

Gebäude „Mehr als Wohnen“ | Zürich | 2014

Gebäude „Spreefeld“ | Berlin | 2014

Stadtteil „Nordbahnviertel“ | Wien | 2014-2025

Quartier „Hunziker Areal“ | Zürich | 2015

Quartier „Zwicky“ | Zürich | 2016

Quartier „Hellwinkel Terrassen“ | Wolfsburg | 2016-

Gebäude „Baufeld B3 Süd“ | Zürich | 2017

Quartier „Greencity“ | Zürich | 2017

Quartier „Blumengroßmarkt“ | Berlin | 2018

Gebäude „Integratives Bauprojekt am ehemaligen Blumengroßmarkt (IBEB)“ | Berlin | 2018

Gebäude „Metropolenhaus II“ | Berlin | 2018

Gebäude „Lynarstraße 38-39 | Berlin | 2018

Quartier „Sonnwendviertel Ost“ | Wien | 2012-22

Gebäude „Vinzi Rast“ | Wien | 2018

Gebäude „Archipélia Social Center“ | Paris | 2019

Gebäude „Bikes and Rails“ | Wien | 2019

Stadtteil „Glattpark“ | Zürich | 2019

Gebäude „Gleis 21“ | Wien | 2019

Gebäude „Grätzelmixer“ | Wien | 2019

Gebäude „Holzwohnbau“ | Wien | 2019

Gebäude „La Borda“ | Barcelona | 2019

Gebäude „Open-up“ | Wien | 2019

Gebäude „Paul Zobel Str.“ | Berlin | 2019

Gebäude „Stadtelefant“ | Wien | 2019

Gebäude „Stadtpalast“ | Antwerpen | 2019

Gebäude „Solid 18 | Amsterdam | 2019

Gebäude „Wright-Strasse“ | Zürich | 2019

Gebäude „Quartiershaus MIO“ | Wien-Sonnwendviertel | 2019

Gebäude „Briesestraße“ | Berlin | 2020

Gebäude „San Riemo“ | München | 2020

Gebäude „Leutschenbach-Mitte“ | Zürich | 2021

Gebäude „Zollhaus“ | Zürich | 2021

Gebäude „Nova City“ | Brüssel | -2023

Gebäude „Gröninger Hof“ | Berlin | in Planung

Gebäude „Haus der Statistik“ | Hamburg | in Planung

Gebäude „Planbude“ | Hamburg | in Planung

Quartier „Schuhmacher“ | Berlin | in Planung

Anhand der Projektsteckbriefe der Long-List, im Abgleich mit gesellschaftlichen und ökonomischen Trends, konnten programmatische Chancen für die unteren Geschosse von Wohngebäuden abgeleitet werden. Die Gemeinwohlorientierung spielt dabei eine zunehmend wichtige Rolle, insbesondere dort, wo der kleinteilige Einzelhandel nicht mehr die Erdgeschosse bespielen kann, um das Leitbild der gemischt genutzten Stadt abzubilden.
Die programmatische Neuausrichtung der unteren Geschosse wird geprägt durch neue Formen der Arbeit und der Zusammenarbeit, durch Orte der Produktion, neue Formen des Wohnens mit gemeinsam genutzten Bereichen, Dritte Orte, d. h. nicht-kommerzielle Orte der Gemeinschaft und des nachbarschaftlichen Austauschs sowie Orte der Kultur. Aufgrund neuer Anforderungen, die aus den Zielen der nachhaltigen, flächensparenden und klimaangepassten Stadt erwachsen, besteht darüber hinaus ein zunehmender Druck auf die Erdgeschosse und deren Vorzonen, u. a. um Kindergärten zu integrieren, Nebenräume für Mobilitätsstationen und Recycling bereitzustellen sowie die Regenwasserbewirtschaftung im Außenraum zu gewährleisten.

Neue Formen der Arbeit
Neue Formen der Arbeit wie Telearbeit (Arbeit im Home-Office), Remote-Working (Arbeit von „draußen oder unterwegs“), virtuelle Teamarbeit und flexible Arbeitsformen (ortsübergreifende Arbeit in wechselnden Teams) wie z. B. Crowdwork (Arbeit, die auf Abruf über ein virtuelles Netzwerk rekrutiert wird) sind in den letzten Jahren stark angestiegen.
Aufgrund der Notwendigkeit oder des Wunschs nach flexibleren Arbeitsstrukturen (u. a. mehrere Arbeitsverhältnisse parallel) entwickeln sich neue kooperative Arbeitszusammenhänge, die eng mit dem unmittelbaren Lebensumfeld verbunden sind. Es entstehen neue Formen meist selbstorganisierter Zusammenarbeit, wie z. B. Coworking, aber auch Einzelhandel- und Dienstleistungscluster, bei denen die Kosten für die Infrastruktur oder gemeinsam genutzte Räume (Sitzungszimmer, WC-Anlagen usw.) geteilt werden (Beispiele: Rio in München, MIO in Wien, Zollhaus in Zürich).

Produktive Stadt
Die Integration des produzierenden Gewerbes in den innerstädtischen Bereich ist im Hinblick auf eine Stadt der kurzen Wege (Dekarbonisierung) und die Sicherung vielfältiger Beschäftigungsformen mit Aufstiegsmöglichkeiten für alle Bildungsniveaus von hoher Relevanz. Neue Technologien und die Digitalisierung haben aufgrund der damit einhergehenden Reduzierung von Emissionen dazu beigetragen, dass viele Formen der Produktion inzwischen stadtverträglich sind (Industrie 4.0) und ihre Ansiedlung im urbanen Kontext möglich machen. Innerstädtische Produktionsstandorte profitieren vom besseren Zugang zu gut ausgebildeten Mitarbeitenden und von der räumlichen Nähe zu Kunden, die aufgrund eines steigenden Bewusstseins für Nachhaltigkeit und Regionalität bei Kaufentscheidungen sich zunehmend für lokal produzierte Waren entscheiden (Beispiel: Nova City in Brüssel). Hinzu kommt ein steigendes Bewusstsein für eine Kultur des Reparierens und Pflegens (Repair & Care). Innerstädtische Reparaturwerkstätten, die auch kollektiv genutzt werden können, bieten eine gute Alternative zur Einweg- und Wegwerfmentalität der Konsumgesellschaft. Die Kosten für innerstädtische Flächen, insbesondere in Neubau, bleiben jedoch eine Herausforderung, die nicht durch den Markt allein geregelt werden kann (Beispiel: Hunziker Areal in Zürich).

Wohnen mit urbanem Potential
Aufgrund fehlender kritischer Masse mit entsprechender Nachfrage lassen sich nicht an jedem Standort aktive Erdgeschosszonen umsetzen. In diesen Fällen besteht die Herausforderung darin, dass das Wohnen im Erdgeschoss dennoch zur Aktivierung des öffentlichen Raums und zur Nachbarschaftsbildung beiträgt. Dann stellt sich die Frage, wie die Schnittstelle zwischen privater Wohnnutzung und öffentlichem Stadtraum so artikuliert und räumlich zoniert werden kann, dass sie Austausch unterstützt, aber das Wohnen trotzdem ausreichend schützt. Hier können neue Formen des Wohnens mit subsistenzfördernden, geteilten und gemeinschaftlichen Funktionen im Erdgeschoss einen Beitrag leisten (Beispiel: San Riemo in München, La Borda in Barcelona). Eine weitere Tendenz ist die Ausbildung von Wohneinheiten mit dem Potential gewerblicher Nutzung in Form von aus dem öffentlichen Raum zugänglichen Maisonette-Einheiten, Atelierwohnungen und Ladenwohnungen (Beispiele: Big Yard, Briesestraße und IBEB in Berlin, Rio in München, Zwicky Süd in Zürich). Gerade in Neubaugebieten stellt sich die Frage, wie das Erdgeschoss typologisch ausgebildet und die rechtlichen Rahmenbedingungen formuliert sein müssen, damit eine Nutzungsänderung von Wohnen zu Gewerbe zu einem späteren Zeitpunkt möglich ist, wenn sich die Nachfrage ändert und gewerbliche Nutzungen rentabel werden (Beispiel: Sluseholmen in Kopenhagen).

Orte der Nachbarschaftsbildung
Das soziologische Konzept der Dritten Orte bezeichnet Orte der Gemeinschaft, die einen Ausgleich zum Familien- und Berufsleben sowie Treffpunkte für die nachbarschaftliche Gemeinschaft bieten. Dritte Orte sind frei zugänglich, ermöglichen politische und soziale Arbeit, stehen allen Bevölkerungsschichten zur Verfügung und können soziale Unterschiede abfedern (Beispiele: Archipélia Social Center in Paris, Hunziker Areal in Zürich, Metropolenhaus am ehem. Blumengroßmarkt in Berlin).

Anhand spezifischer Auswahlkriterien wurden auf Basis der Projektsteckbriefe (Long-List) 16 Best-Practice-Projekte (Short-List) als tiefergehend zu betrachtende Fallstudien ausgewählt. Diese Projekte können im Sinne des Forschungsprojekts im besonderen Maß als Experimente verstanden werden. Maßgebliche Kriterien für die Auswahl waren das Innovationspotential des Projekts hinsichtlich neuer Programme und vertikaler Mischkonstellationen, die abgeschlossene Realisierung sowie die Schaffung gemeinwohlorientierter Mehrwerte im Quartier. Projekte in City-Lagen bzw. A-Lagen wurden nicht weiter berücksichtigt. 

Die für die Short-List ausgewählten Best-Practice-Beispiele werden den Anforderungen nachhaltiger, nutzungsgemischter oder anpassungsfähiger Stadträume und Gebäudestrukturen in besonderer Weise gerecht und eröffnen neue Handlungsmöglichkeiten für eine gemeinschaftsorientierte Quartiersentwicklung. 


Stadtteil „Seestadt Aspern“ | Wien | 2007-2028
Entwickler*in: Wien 3420 Aspern Development AG, Stadt Wien Bundesimmobiliengesellschaft
Architekt*innen: Tovatt Architects & Planners, Gehl Architects

Quartier „Sonnwendviertel Ost“ | Wien | 2012-22
Entwickler*in: ÖBB-Immobilienmanagement, Stadt Wien
Architekt*innen: kooperativ entwickelter Masterplan (6 Architekturbüros und andere Akteure)

Gebäude „Spreefeld“ | Berlin | 2014
Bauherr*in/Akteur*in: Bau- und Wohngenossenschaft Spreefeld Berlin eG, Einzelbauherren
Architekt*innen: Carpaneto, BARarchitekten, FATKoehl Architekten

Quartier „Hunziker Areal“ | Zürich | 2015
Bauherr*in/Akteur*in: Genossenschaft „mehr als wohnen“
Architekt*innen: Duplex Architekten, Futurafrosch, Müller Sigrist, Miroslav Sik u.a.

Gebäude „Metropolenhaus II“ | Berlin | 2018
Entwickler*in: Projektgesellschaft GmbH & Co. KG, Erdgeschossgesellschaft GmbH & Co. KG, BFStudio-Architekten, feld 5 e.V. Kulturplattform
Architekt*innen: BFStudio-Architekten

Gebäude „Integratives Bauprojekt am ehemaligen Blumengroßmarkt (IBEB)“ | Berlin | 2018
Bauherr*in/Akteur*in: Selbstbaugenossenschaft Berlin eG, Ev. Gemeindeverein der Gehörlosen in Berlin e.V., Private Eigentümer
Architekt*innen: Heide & von Beckerath, Institut für angewandte Urbanistik (IFAU)

Gebäude „MIO Quartiershaus“ | Wien-Sonnwendviertel | 2019
Bauherr*in/Akteur*in: Wohnbaugenossenschaft „Heimbau“
Architekt*innen: Studio Vlay Streeruwitz

Gebäude „La Borda“ | Barcelona | 2019
Bauherr*in/Akteur*in: La Borda Housing Cooperative
Architekt*innen: Lacol Arquitectura Cooperativa

Gebäude „San Riemo“ | München | 2020
Bauherr*in/Akteur*in: Genossenschaft Kooperative Großstadt
Architekt*innen: Summacumfemmer mit Büro Juliane Greb

Gebäude „Zollhaus“ | Zürich | 2021
Bauherr*in/Akteur*in: Genossenschaft „Kalkbreite“
Architekt*innen: Enzmann Fischer Partner

Gebäude „Nova City“ | Brüssel | -2023
Bauherr*in/Akteur*in: Stadt Brüssel (Entwickler), Kairos – Wolito (Investor)
Architekt*innen: DDS + Bogdan & Van Broeck

Bei der Betrachtung der für das Forschungsprojekt ausgewählten Best-Practice-Beispiele sind die Rahmenbedingungen der Entstehung eines Projekts entscheidend. Dabei wird im Forschungsprojekt zwischen externen und internen Rahmenbedingungen unterschieden. Externe Rahmenbedingungen betreffen Vorgaben der Kommune und Politik, rechtliche und verfahrenstechnische Fragen sowie die Finanzierung. Die internen Rahmenbedingungen eines Projekts werden im Forschungsprojekt auf drei Ebenen behandelt: Hardware meint die baulich-räumliche Struktur, Orgware betrifft die rechtlich-organisatorische Ebene und Software die Programmierung und Nutzung.

Die Unterscheidung zwischen externen und internen Rahmenbedingungen ist relevant, da die Instrumente, die im Rahmen des Forschungsprojekts herausgearbeitet werden sollen, zum Teil nur in bestimmten Phasen der Entwicklung und Umsetzung eines Projekts zur Verfügung stehen und jeweils nur von bestimmten Akteuren eingesetzt werden können.

Ziel des Forschungsprojekts ist es, Instrumente, Handlungsoptionen und Strategien herauszuarbeiten und deren Übertragbarkeit auf andere Kontexte und Maßstäbe aufzuweisen sowie auf mögliche Widerstände und Hemmnisse hinzuweisen.